KFR, Trifonov und Babayan ©KFR Peter Wieler
Sergei Babayan und sein Meisterschüler Daniil Trifonov geben einen beeindruckenden Rachmaninow-Abend beim Klavier-Festival Ruhr in Essen
Essen, Philharmonie, 1. Mai 2023
Sergej Rachmaninow (1873-1943)
Suite Nr. 1 für zwei Klaviere op. 5
Suite Nr. 2 für zwei Klaviere op. 17
Symphonische Tänze op. 45 (Fassung für zwei Klaviere)
Daniil Trifonov, Klavier
Sergei Babayan, Klavier
von Brian Cooper, Bonn
„Brauch’ noch jemand ’nen Stehplatz? Für umme?“ Die Stimme des freundlich dreinblickenden Herrn schallt unaufdringlich durch die Kassenhalle. Es sind kleine Szenen wie diese, die Gründe liefern, warum ich immer wieder richtig gern ins Ruhrgebiet fahre.
Es ist nicht ganz Sergei Rachmaninows 150. Geburtstag; der war einen Monat vor diesem bemerkenswerten Essener Abend. Natürlich ist das Programm nicht nur für Fans der Musik des russischen Komponisten ein Pflichttermin. In seiner kurzen Ansprache zu Beginn erinnert Intendant Franz Xaver Ohnesorg – ein wenig wehmütig, scheint’s, angesichts des nun weit über ein Jahr zurückliegenden Beginns des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine – daran, was wir der russischen Kultur verdanken. Ein Punkt, der nicht vergessen werden sollte.
Der US-amerikanisch-armenische Pianist Sergei Babayan und sein 30 Jahre jüngerer russischer Meisterschüler Daniil Trifonov spielen an zwei Konzertflügeln, die nicht wie üblich hintereinander postiert sind, ineinander verschlungen, sondern so, dass die beiden Pianisten quasi auf gleicher Höhe sitzen. Das erscheint aus zwei Gründen einleuchtend: Zum einen ist der Blickkontakt leichter. Vor allem aber scheint mit einem Mal zumindest dem verblüfften Rezensenten der Klang transparenter, die Stereophonie wirkt durchhörbarer: Man hört viel leichter, wer gerade was spielt.
Die beiden Pianisten kennen sich seit vielen Jahren und wirken trotz ihrer jeweils beeindruckenden eigenen Karrieren wie ein eingespieltes Team. Man denkt an die Geschwisterpaare Labèque, Pekinel, Jussen… Hier spielen Trifonov und Babayan gleichsam wie ein einziger vierarmiger Mann – so frappierend klingt die gemeinsame Agogik, das gemeinsame An- und Abschwellen der dynamischen Schattierungen.
In der ersten Suite op. 5 geht es an diesem Abend in der Tendenz still zu, doch überall lauert in der Ruhe die Kraft, das Kraftvolle, das immer wieder ausbricht, insbesondere im letzten Satz, das in seiner Glockenhaftigkeit erstaunlich viel von Mussorgskis Großem Tor von Kiew hat, dem letzten Teil der Bilder einer Ausstellung. Die Läufe perlen beeindruckend synchron, und man sitzt gebannt an seinem Platz und staunt ob dieser Technik und Musikalität, die Geschichten erzählt.
Mit dem gebührenden Schwung beginnt die 2. Suite. Anschnallen ist Pflicht, es hat was von Ready for take-off. Das Werk entsteht unter den Händen Trifonovs und Babayans neu, als hätte man es nicht noch vor gut einer Woche in Dortmund gehört. Ein Vergleich verbietet sich; beide Darbietungen gelangen hinreißend. Vom Essener Rezital bleiben in Erinnerung die Ruheoasen während des doch eher wilden Stücks: natürlich im langsamen Satz, aber auch in den Momenten schwelgerisch-nostalgischen Verweilens im Walzer (2. Satz). Die abschließende Tarantelle sorgte bereits zur Pause für Bravo-Rufe.
Rachmaninows eigene Fassung seines letzten Werks, der Symphonischen Tänze op. 45, gelang den beiden ebenfalls phänomenal, mit unglaublicher Präzision, etwa im Dies-irae-Schluss, und in diesem so beeindruckenden Aufeinander-Hören, wie es nur die ganz großen Künstler hinbekommen, die einander blind vertrauen können. Stellvertretend sei die Stelle erwähnt, an der in der Orchesterfassung das Saxophon ein großes Solo hat. Wieder so eine Ruheoase, in der die Zeit stillzustehen scheint…
Die Zugabe war großzügig: das Adagio aus Rachmaninows 2. Sinfonie op. 27, in Trifonovs genialer Bearbeitung für zwei Klaviere. Unschön der Kommentar einer Dame, die zur allzu leisen Ankündigung Babayans ironisch ätzt, ob es nicht „noch leiser“ ginge. Si tacuisses, denkt man, einmal mehr. Dankbarkeit wäre angebracht gewesen. Und wenn man etwas akustisch nicht versteht, kann man am Folgetag auf der Homepage der Klavier-Festivals nachlesen, was gespielt wurde.
Interessant ein „Generationenaspekt“ bei der Zugabe: Trifonov spielte aus Noten in klassischer Papierform, während der ältere Kollege vom Tablet ablas.
Eine andere Dame meinte, während der letzten Takte der Zugabe geräuschvoll zwei Fotos fürs private Handyalbum machen zu müssen. Im Hinausgehen schimpft meine Begleitung wie ein Rohrspatz nicht nur über diese Aktion, sondern vor allem über die Tatsache, dass die Frau das Klickgeräusch der Kamera eingeschaltet gelassen hat. „Ey, das ist so typisch Boomer!“, höre ich. „Hegst Du etwa einen Groll gegen Boomer?“, frage ich. „Nur gegen Boomer ohne Taktgefühl“, so die schlagfertige Replik. Einig sind wir uns, dass es dieselben Leute sind, deren Smartphones mit jedem getippten Buchstaben ein Geräusch absondern – und in der Bahn sitzen sie immer hinter einem.
Zu selten wird die Arbeit der Menschen gewürdigt, die den Ausführenden die Noten umblättern. An diesem Abend meisterten die beiden jungen Damen höchst aufmerksam, stets diskret und unauffällig ihre schwere Aufgabe.
Im Foyer gesichtet: Der Intendant des Konzerthauses Dortmund, Raphael von Hoensbroech, der sich angeregt mit seinem „Exklusivkünstler“ Lahav Shani unterhielt. Dieser hatte acht Tage zuvor mit Martha Argerich im Konzerthaus gezaubert. Zudem war es der Vorabend seines eigenen Solo-Rezitals in Bochum, mit Prokofjew-Sonaten, beim Klavier-Festival.
Dr. Brian Cooper, 2. Mai 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Klavier-Festival Ruhr, Evgeny Kissin Essen, Philharmonie, 1. Juli 2022
Klavier-Festival-Ruhr, Evgeny Kissin Wuppertal, Historische Stadthalle, 27. Juni 2022